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Von Fuss bis Kopf

  • Autorenbild: Anna Esser
    Anna Esser
  • 26. Okt.
  • 4 Min. Lesezeit

Unser Rumpf ist mehr als ein statisches Gerüst. Er ist ein dynamisches System, in dem Beckenboden, Zwerchfell, Bauch- und Rückenmuskulatur, Fussgewölbe und letztlich auch Kiefer und Cranium funktionell verbunden sind. Für viele Menschen mit rezidivierendem Hexenschuss, Lumbago oder einer craniomandibulären Dysfunktion lohnt es sich, dieses Zusammenspiel besser zu verstehen.




1. Die Muschel-Analogie – Stabilität von innen heraus



Stellen Sie sich Ihren Rumpf vor wie eine Muschel:


  • Das obere Schalenblatt repräsentiert das Zwerchfell,

  • das untere Schalenblatt den Beckenboden,

  • die Seiten und Verbindungselemente sind die Bauch- und Rückenmuskulatur sowie die Faszienverbindungen.



Wenn die Muschel weit geöffnet ist – wenn also das Zwerchfell sich nicht korrekt bewegt, der Beckenboden ersatzweise überlastet ist und die Seitenmuskulatur („Schalenränder“) schwach oder überlastet – entsteht Instabilität. In der Praxis bedeutet das: Der untere Rücken gerät in erhöhte Spannung, da er versucht, fehlende Stabilität durch Kompensation zu erzeugen. Gleichzeitig atrophieren häufig die untere Bauchmuskulatur und die Glutealmuskulatur, was den Druck auf den Beckenboden durch Organe/intraabdominalen Druck erhöht.




2. Zwerchfell & Bauchmuskulatur – der Atem- und Spannungsmechanismus



Das Zwerchfell (diaphragm) ist unser primärer Atemmuskel: Bei der Einatmung zieht es sich zusammen und wandert nach kaudal (nach unten), bei der Ausatmung entspannt es und steigt nach kranial. Nimmt die Bauch- und Seitenmuskulatur jedoch seiner Funktion nicht genügend Raum — etwa weil der Rippenbogen nicht nach unten gezogen wird —, wird das Zwerchfell in seiner Bewegung blockiert.

Wenn z. B. die abdominalen Muskeln den Rippenbogen nicht mehr aktiv nach caudal ziehen, bleibt der Thorax in einer gehobenen Position, das Zwerchfell kann nicht vollständig entspannen.

Die Folge: Atemmechanik wird flacher, die Verbindung zur Wirbelsäule und zum Beckenboden gestört, und der M. psoas major wird verstärkt rekrutiert. Dieser Hüftbeuger verläuft von den Lendenwirbeln durch das Becken zur Femur und steht damit in direkter Beziehung zur Beckenstellung und zur Bewegung des Zwerchfells. 

Wenn dieses System nicht ausgewogen arbeitet, entsteht eine Rumpfinstabilität, die oft als „Muschel zu weit geöffnet“ beschrieben werden kann.




3. Der M. psoas major als Brücke zwischen Zwerchfell und Beckenboden



Der M. psoas major verläuft von den Lendenwirbeln (u. a. T12-L4) durch das Becken und setzt am Femur an. 

Er steht dabei oberflächlich in Verbindung mit dem Zwerchfell (über Faszien, Fascia thoracolumbalis, mediale Bogenstruktur) sowie unter mit dem Beckenboden und der Beckenstellung.

Wenn der Psoas chronisch verkürzt oder hypertens ist – z. B. durch langes Sitzen, Fehlhaltung oder respiratorische Einschränkungen – zieht er das Becken in eine Vorkippung, erhöht die Lendenlordose und belastet den Beckenboden durch vermehrten Zug und Druck. Gleichzeitig wird das Zwerchfell in seiner Beweglichkeit eingeschränkt.

In dieser Situation entspricht die Muschel einem „offen stehenden Scharnier“ – die Seitenkräfte müssen den ausgefallenen zentralen Spannungsaufbau übernehmen, was häufig zu Schmerzbildern im unteren Rücken, zu Beckenbodenbeschwerden oder sogar zu Kieferproblemen führen kann.




4. Die Glutealmuskulatur – stabilisierend für Beckenboden und Beckenstatik



Die Glutealmuskulatur, insbesondere der M. gluteus maximus, hat eine mehrfache Rolle: Sie ist Hüftstrecker und unterstützt die aufrechte Haltung; zusätzlich wirkt sie als spannungsregulierender Faktor für den Beckenboden und stabilisiert das Kreuz-/Beckengelenk.

Wenn diese Muskelgruppe geschwächt ist – etwa durch mangelnde Aktivierung, viel Sitzen oder lang anhaltende Fehlbelastung – verliert das System eine wichtige „Unterstützungs-Plattform“. Der Beckenboden erhält weniger stabilisierende Impulse von unten, das Becken kippt leichter, und der Druck durch intraabdominale Strukturen steigt, was wiederum die Arbeit des Zwerchfells und der Bauchmuskulatur beeinflusst.

Das Ergebnis: Die Muschel bleibt offen, die Seitenmuskulatur übernimmt Überlastung – häufig mit Rückenschmerz, Beckenboden-Problemen oder Kieferfehlhaltungen.




5. Fußgewölbe – Längs & Quer – und ihr Einfluss auf Becken, Beckenboden & Kiefer



Ein oft unterschätzter Faktor: die Statik des Fußes – sowohl das Längsgewölbe als auch das Quergewölbe.



- Längsgewölbe (medial longitudinal arch)



Änderungen im Längsgewölbe (z. B. Plattfuß oder überhöhtem Fußgewölbe) beeinflussen die Gewichtsverteilung, Beinachse und damit das Becken und die Wirbelsäule. Studien zeigen, dass selbst moderate Erhöhungen des Längsgewölbes mit veränderter Körperhaltung in Verbindung stehen. 



- Quergewölbe (transverse tarsal arch)



Neuere Forschungen zeigen, dass das Quergewölbe der Fußvorderseite eine wesentliche Rolle für die Längs-Steifigkeit des Fußes spielt – in einer Studie wurde festgestellt, dass es über 40 % zur Steifigkeit beiträgt. 

Eine fehlende oder abgeschwächte Quergewölbestruktur kann also zu Fußinstabilität führen, was über das Beckenbein und Beckenboden bis hoch zum Zwerchfell und Kiefer Einfluss nehmen kann.



- Wechselwirkungen Fuß ↔ Becken ↔ Kiefer



Dank des Modells der Tom Myers’s Anatomy Trains (insbesondere der „Deep Front Line“) sind diese Verbindungen plausibel: Vom Fußgewölbe entspringen tiefe Faszien­bänder, die durch das Unterschenkel-/Oberschenkel-Innensegment über den Psoas, das Becken und das Zwerchfell bis hinauf zum Kiefer ziehen. 

Wenn z. B. das Fußquergewölbe instabil ist, kann das eine Kettenreaktion im Fasziennetz in Gang setzen: Beckenboden wird weniger stabil unterstützt → Becken kippt → Zwerchfellmechanik wird gestört → Atemmuster und Haltung verschlechtern sich → Kiefergelenk wird sekundär mitbelastet (Craniomandibuläre Dysfunktion).

Das bedeutet: Ein instabiler Fuß kann über dieses Netzwerk Anteil an Rückenschmerz, Beckenbodenproblemen oder Kieferfunktionen haben.




6. Einsatz für Ihre Patient*innen mit Hexenschuss, Lumbago oder Kieferproblemen



Wenn Sie als Therapeutin Patient*innen haben mit wiederkehrendem Hexenschuss, Lumbago oder einer Craniomandibulären Dysfunktion, lohnt sich ein Blick auf das System statt nur den Ort:


  • Prüfen Sie Fußgewölbe (Länge + Breite) inkl. Quergewölbe.

  • Analysieren Sie die Becken- und Glutealaktivität.

  • Beobachten Sie Atem- und Zwerchfellmuster.

  • Untersuchen Sie die Spannung des Psoas und die Bauchmuskulatur.

  • Entwickeln Sie einen integrativen Ansatz: Fuß-Mobilisation, Gluteal-Stärkung, Atem- und Zwerchfelltraining, Beckenboden-Integration, Faszien-Arbeits­anteil und ggf. Einfluss auf Kiefergelenk.


 
 
 

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